Zerbrechen

Zerbrechen … am Schicksal, an der Trauer, am Leben. Wenn es um schlimme Erfahrungen geht, wird dieses Wort, vor allem von Außenstehenden, oft verwendet. Man hört es im Radio, man liest es in Zeitschriften, es wird hinter vorgehaltenen Händen geflüstert oder in Buchrezensionen geschrieben. Es scheint so, als ginge es leicht über die Lippen, als wäre es fast unausweichlich oder zumindest sehr wahrscheinlich, dass man an gewissen Dingen zerbricht.

Auch über mir schwebte die Gefahr des Zerbrechens, als Drohung, als Warnung, manchmal auch als letzter Ausweg. Dabei fragte ich mich immer wieder, was das eigentlich genau hieß: zerbrechen. Wie viele Tage muss man weinen, wie lange muss man im Bett liegen bleiben, um als gebrochen zu gelten? Ging es überhaupt um Dauer? Oder gab es irgendwo einen Knacks – einen bestimmten Moment, in dem man plötzlich zerfiel? War man gebrochen wie eine Vase, kaputt und nicht mehr zu flicken? War alles zu spät, wenn man erst einmal zu Scherben zerfallen war?

Ich wollte keine >>gebrochene Frau<< sein. Mit der Angst im Nacken setzte ich alles daran, mich als Ganzes zusammenzuhalten. Mein Hirn lief oftmals auf Hochtouren auf der Suche nach einer neuen Identität, einer Lebensaufgabe, nach dem einen Sinn, der alles verbindet, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, Glück und Schmerz. Ich wurde immer kreativer, und dabei erfand ich viele schöne Geschichten, Märchen, Gedichte und auch sehr praktische, kreative Lebenspläne.

Ich bin froh, dass ich meinen Kopf habe, der sich so vieles einfallen lässt, damit ich mich meistens sicher und komplett fühle. Doch es gab Phasen, da wurde diese Aufgabe sogar meinem pfiffigen Kopf zu viel. Er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr. Die Gedanken drehten sich weiter im Kreis, doch die Zahnräder meines Denkens schienen nicht mehr ineinanderzugreifen.

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>>Unsere Identität ist wie ein Haus<<, sagte meine Therapeutin. >>Es besteht aus Ziegeln und aus Zement, der die einzelnen Ziegel zusammenhält. Es gibt Zeiten im Leben, da wird der Zement brüchig. Das Haus zerfällt. Das kann beängstigend sein. Aber es ist nicht so schlimm, wie man denkt. Denn auch wenn die Mauern umfallen und es im Augenblick keinen Halt mehr gibt: Die Ziegel sind noch da. Sie müssen nur neu zusammengesetzt werden. Das braucht Zeit – und ist eine gute Gelegenheit, das Material zu sichten. Welche Ziegel sind intakt, welche sind tatsächlich gebrochen, vielleicht, weil sie schon lange spröde waren? Möchte ich neue besorgen, um mein Haus ein wenig größer zu bauen? Oder begnüge ich mich mit den Ziegeln, die da sind, und richte mich vielleicht für den Augenblick etwas bescheidener ein?<<

Ich bekam Hausaufgaben: Spazieren gehen.

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Ich sammelte alles, was mir selbst im Zustand des Zerfallens noch guttat. Ich erforschte mein Fumdament. Atmen.

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Ich wurde bescheiden – auch im Hinblick auf das Glück. Ich begann, Momente zu sammeln, in denen es mir einfach nur ein kleines bisschen besser ging als im Moment zuvor.

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Ja, vermutlich war ich tatsächlich zerbrochen. Aber es war nicht so schlimm. Es war immer noch genug da, von mir und vor allem von der Welt, die mich umgab. Es ging ja nicht nur um mich. Es gibt viele, die am Zement meines Lebens mitmischen, und viele Zutaten, die seine Qualität erhöhen. Ich bin nicht allein – vielleicht konnte ich das erst bemerken, als kaum mehr etwas von mir übrig war.

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aus: Warum gerade du? von Barbara Prachl-Eberhart